Insomnie in Deutschland – massive Unterversorgung?

In der hier durchgeführten Analyse zur Bewertung der medikamentösen Behandlung und des Gesundheitszustandes von Menschen mit Insomnie in Deutschland zeigt sich bei einer medianen Krankheitsdauer von 5 Jahren, dass circa 50 % der Betroffenen unter einer sogar mittelschweren bis schweren Insomnie litten und nur 30 % der Betroffenen ein verschreibungspflichtiges Medikament zur Behandlung ihrer Insomnie einnahmen oder dieses überhaupt angeboten bekamen. Der Gesundheitszustand, die selbstberichtete Morbidität und Lebensqualität wurde von den Insomnie Betroffenen als eingeschränkt beschrieben.

Die Daten der in dieser Untersuchung eingeschlossenen Teilnehmenden der NHWS 2020 aus Deutschland beruhen auf nicht verifizierten Selbstberichten. Der Fokus lag auf den Personen, die bei der Befragung angegeben haben, dass ihre Diagnose einer Insomnie durch eine ärztliche Fachperson erfolgte. Das waren etwa 5 % der Gesamtbefragten, was in etwa mit den bisherigen Angaben zur Prävalenz der Insomnie in Deutschland übereinstimmt [21, 29]. Die Teilnehmenden mit Insomnie litten bereits seit mehreren Jahren an ihrer Erkrankung und daher kann ihre Erkrankung als chronische Insomnie interpretiert werden [1, 24]. Die Krankheitsdauer deckt sich dabei mit der oft langen Wartezeit bis zur Vorstellung in einer Spezialsprechstunde [13]. Der Anteil der an einer Insomnie erkrankten Erwachsenen mit einer laut ISI mindestens moderaten Insomnie [10] lag bei circa 50 %. Bei wie vielen Teilnehmenden jedoch das Krankheitsbild einer Kurzzeit-Insomnie vs. chronischen Insomnie [1, 5, 24] vorlag, kann durch die vorliegenden Daten nicht sicher beziffert werden. Aktuelle Schätzungen basierend auf bestverfügbarer Evidenz gehen von ca. 8332–219.413 Menschen mit einer chronischen Insomnie in Deutschland aus [15, 23]. Die große Spanne der Schätzung beruht auf der nur schwer objektivierbaren Datengrundlage. Als Grundlage für diese Schätzungen können nur Zahlen aus Codierungsdatenbanken herangezogen werden, im konkreten Fall Daten von GKV-Versicherten. Dabei kann derzeit nur die ICD-10-GM F51.0 als Datengrundlage genutzt werden [5]. Die Ziffer F51.0 bildet aktuell als einzige ICD-10-GM Ziffer auch eine chronische Verlaufsform der Insomnie ab [5]. Außerdem wurden Meldungen zur Arbeitsunfähigkeit bei Menschen mit jeglicher Form der Insomnie für diese Berechnungen herangezogen [15, 23, 27]. Durch die Unschärfe der bisherigen Codierung und die Nutzung von indirekten Kennziffern kann man aber davon ausgehen, dass die Anzahl von Menschen mit einer behandlungsbedürftigen chronischen Insomnie eine sozioökonomische Relevanz hat.

Folgt man der Literatur, so werden ca. 30 % der Menschen mit Insomnie medikamentös behandelt [15, 23]. Diese Zahlen werden mit den hier vorgelegten Daten bestätigt. In der Gesamtschau werden derzeit ca. zwischen 2000 bis 79.000 Menschen mit chronischer Insomnie in Deutschland medikamentös behandelt [15].

Den aktuellen Daten nach leiden ca. 50 % der Menschen mit einer Insomnie auch unter komorbiden Erkrankungen. Chronische Insomnien, wie sie z. B. komorbid im Rahmen einer Depression auftreten können, werden aktuell im ICD-10 gar nicht abgebildet [5]. Dieser Missstand wird im seit dem 1. Januar 2022 international gültigen ICD-11 behoben [5]. Im ICD-11 wird die chronische Insomnie im eigenen Kapitel Schlaf-Wach-Störungen unter 7A00 codiert [5], was der Beachtung der chronischen Insomnie als eigenständige Erkrankung gerecht wird.

Die erhobenen Daten lassen auch den Rückschluss zu, dass der Gesundheitszustand wie auch die Lebensqualität bei Menschen mit Schlafstörungen in Deutschland im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung beeinträchtigt ist, was auch in früheren Untersuchungen publiziert wurde [21]. Während die zusammenfassenden Werte der körperlichen (für die selbstberichtete Morbidität) und mentalen (für die Lebensqualität) Summenkomponente des SF-36 für alle 10.034 NHWS-Teilnehmenden den deutschen Referenzwerten von jeweils 50 [11] entsprechen, liegen diese Werte bei der deutschen Insomnie-Kohorte insgesamt mit ca. 44 (für Morbidität) bzw. 41 (für Lebensqualität) niedriger [11]. Dies weist auf erhebliche körperliche sowie psychosoziale Defizite hin und legt einen Handlungsbedarf beim Management der Insomnie nahe.

In beiden Kohorten wurde angegeben, dass über 50 % der Insomnie-Diagnosen im Bereich der Allgemein- und der Inneren Medizin gestellt wurden. Jedoch ist der Unterschied Diagnosestellung „Schlafstörung“ bezüglich der unterschiedlichen Kategorien zwischen DT-Kohorte und DUt-Kohorte-Kohorte signifikant (chi2 = 13,9140; p = 0,0030; Tab. 4). So diagnostizierten in der DT-Kohorte etwa zweimal so häufig psychiatrische ärztliche Fachpersonen die Schlafstörung wie in der DUt-Kohorte. Auch wenn nicht bekannt ist, ob die Diagnose stellende medizinische Fachdisziplin auch die verschreibende Fachdisziplin ist, könnte ein Grund hierfür die Verordnungseinschränkung von Hypnotika gemäß Nr. 32 Anlage III Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) sein. Nachdem das Ziel der AM-RL ist, Medikalisierung zu verhindern, unterstützen die Daten das Gewicht dieser Richtlinie. Jedoch müssen Diagnosen durch unterschiedliche ärztliche Fachrichtungen eine vergleichbare Bewertungs- und Wissensgrundlage haben. Da der Fachbereich Schlafmedizin interdisziplinär aufgestellt ist, sollten die Ausbildungsvoraussetzungen für die Diagnostik und Behandlung von Menschen mit Schlafstörungen fachübergreifend gleich sein. Aktuell variieren sie jedoch massiv, weswegen derzeit große Wissens- und damit verbundene Versorgungslücken existieren. Nur bei einer fachärztlichen Zusatzbezeichnung Schlafmedizin kann man von einem konsentierten Vorgehen ausgehen. Zu fordern sind eine Aufnahme von schlafmedizinischen Curricula in die Ausbildung einiger Fachrichtungen sowie eine generelle Aufnahme von vergleichbaren schlafmedizinischen, inklusive insomnischen Inhalten in die Lehre. Was die schlafmedizinische Versorgung betrifft, braucht es mehr interdisziplinäre und auch auf eine Insomnie spezialisierte Schlafambulanzen sowie die Implementierung leitlinienbasierter spezifischer Behandlungspfade für das individualisierte Management einer chronischen Insomnie [3, 29].

Interessanterweise gaben mehr als 70 % (394/532) der Menschen mit einer Insomnie an, trotz Beschwerden keine verschreibungspflichtigen Medikamente einzunehmen, und diese größtenteils ärztlicherseits sogar nie angeboten bekommen zu haben. Dies kann darin begründet sein, dass die primär empfohlenen und zur Verfügung stehenden Benzodiazepine und Z‑Substanzen nur als Kurzzeittherapie zugelassen sind. Sie sollten deshalb einschließlich Ausschleichphase in der Regel nur bis zu 4 Wochen verordnet werden und sind möglicherweise – durch ihr Abhängigkeitspotenzial bzw. einen möglichen Wirkungsverlust – auch ein Grund für die ärztliche Resilienz in der Verordnung. Zusätzlich besteht sowohl vonseiten der verordnenden Fachpersonen als auch vonseiten der Betroffenen oft Skepsis gegenüber potenziell abhängigkeitsgefährdenden Präparaten, die einer Verordnung entgegensteht. Da nur die verordnete medikamentöse Behandlung abgefragt wurde, sind Aussagen zu anderen Behandlungsoptionen, so auch zu verhaltenstherapeutischen Interventionen oder die Anwendung freiverkäuflicher Präparate nicht möglich. Aus der Literatur ist bekannt, dass derzeit nur ca. 10 % der Erkrankten eine konventionelle strukturierte KVT‑I erhalten [23, 27]. Einzelne Komponenten einer Verhaltenstherapie wie die Schlafhygiene oder Entspannungstechniken werden häufiger angewendet, jedoch gibt es dazu keine wissenschaftlichen Daten. Inzwischen stehen in der GKV regelhaft digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) für die Behandlung einer Insomnie zur Verfügung [16], die neue Möglichkeiten bei der strukturierten Begleitung von Menschen mit Schlafstörungen eröffnen, über deren Wirksamkeit im Versorgungsalltag jedoch bisher noch keine Daten vorliegen.

Die Teilnehmenden der beiden untersuchten Kohorten waren im Mittel etwa 50 Jahre alt und mehrheitlich weiblich. Diese Geschlechts- und Altersverteilung entspricht anderen Untersuchungen [27, 29]. Die Daten ergeben, dass Menschen mit Insomnie in Deutschland sozial eher schwächer gestellt zu sein scheinen. Auch lag der GKV-Anteil in den Insomnie-Kohorten deutlich höher als bei den gesamten deutschen NHWS-Teilnehmenden, wobei die Verteilung bei allen NHWS-Teilnehmenden jener der Allgemeinbevölkerung entsprach. Verglichen mit den Gesamtbefragten (mindestens eine Komorbidität bei 20,1 %) lag der Anteil mit mindestens einer Komorbidität in beiden Insomnie-Kohorten anteilig doppelt so hoch (DT, 39,1 %; DUt, 38,3 %). Die häufigsten berichteten Komorbiditäten der Insomnie waren Schmerzen (DT, 65,2 %; DUt, 68,5 %), gefolgt von Depressionen (DT, 55,8 %; DUt, 49,2 %). Auffällig ist der hohe Anteil an Menschen in den Insomnie-Kohorten mit Angabe einer Angststörung. Die Daten sind auch im Vergleich Insomnie-Kohorten vs. Nicht-Insomnie-Kohorte signifikant. Auch wenn nicht gesagt werden kann, inwieweit Beeinträchtigungen im Alltag auch auf die Komorbiditäten zurückzuführen sind, spiegeln die Daten wider, dass Schlafstörungen mit verschiedenen anderen Gesundheitsstörungen vergesellschaftet sein und ein bidirektionales Verhältnis haben können [14].

Insgesamt berichteten die Teilnehmenden, dass zum Zeitpunkt der Erhebung nur etwa 30 % der Erwachsenen mit einer Insomnie eine verschreibungspflichtige medikamentöse Behandlung (= DT-Kohorte) erhielten, mehrheitlich in Form von nicht-B-/nicht-Z- bzw. Off-Label-Präparaten. Die Gründe für den hohen Anteil an nicht-B-/nicht-Z- bzw. Off-Label-Verordnungen lassen sich anhand der auf Selbstauskünften beruhenden Daten nicht ermitteln. Von den medikamentös Behandelten geben ca. 50 % an, dass die Schwere der Schlafstörungen und die Auswirkungen auf die Alltagsbefindlichkeit deutlich höher sind, wenn sie keine Medikamente einnehmen. Dies könnte auch die Antwort darauf sein, dass genau diese Betroffenen aus der DT-Kohorte überhaupt eine Medikation erhalten. Die Daten legen allerdings nahe, dass die Behandlungsdauer in der DT-Kohorte den zugelassenen regulären Verordnungszeitraum mit mehr als 40 Monaten für B‑ und Z‑Medikamente deutlich überschreitet. In der Literatur ist beschrieben, dass bei Menschen mit Insomnie auch auf Privatverordnungen zurückgegriffen wird [4, 9, 19, 27]. Auch lassen sich Betroffene ihre Medikation von mehreren ärztlichen Fachpersonen nacheinander verschreiben [27]. Dies spricht einerseits für einen hohen Leidensdruck bei den Betroffenen, eine restriktive Verschreibung seitens der behandelnden ärztlichen Fachpersonen, oder aber auch für einen hohen Verbrauch als Zeichen von Sucht und Abhängigkeit. Dieser Befund ist in Übereinstimmung mit dem Suchtreport der Bundesregierung [9]. Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung bestätigt das Verschreibungsverhalten der ärztlichen Fachpersonen, kam es doch zwischen 2014 und 2020 in Deutschland zu einer Zunahme der Privatverordnungen für Benzodiazepine und Z‑Substanzen bei Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), bei sinkenden GKV-Verordnungen [19]. Laut aktuellem Leitfaden Medikamentenabhängigkeit der Arzneimittel-Kommission der deutschen Ärzteschaft sind Benzodiazepine und Z‑Substanzen die führenden Substanzen bei Medikamentenabhängigkeit [4]. Diese Erkenntnisse unterstützen die Aussage hinsichtlich einer massiven Unter- und Fehlversorgung insbesondere bei chronischer Insomnie und spiegeln einen hohen Bedarf an neuen innovativen inklusive medikamentösen Therapiemöglichkeiten wider.

Symptome der Insomnie beeinflussen die Gesundheit sowie die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit und beeinträchtigen somit auch die Arbeitsproduktivität [18, 27]. Das zeigt sich auch in der vorliegenden Analyse. Geschätzte EQ-5D-Standardwerte für die Gesamtbevölkerung in Deutschland zeigen, dass ca. 60 % einen Wert von 0,92 haben, was der Angabe „kein Problem“ bei allen abgefragten Punkten entspricht [25]. Der Gesundheitszustand der deutschen NHWS-Gesamtbefragten war besser als bei den Menschen mit Insomnie: Mit einem Mittelwert von 0,88 beim EQ-5D-5L Indexwert lagen die Gesamtbefragten im oberen Bereich. Für beide Insomnie-Kohorten zeigten sich – mit Werten von 0,73 (DT) bzw. 0,76 (DUt) – relevante Auswirkungen [25] der Insomnie auf den Gesundheitszustand. Im Gegensatz zu den Gesamtbefragten gaben Befragte beider Kohorten im Mittel 2- bis 3‑mal häufiger an, bei der Arbeit zu fehlen. Die geringen Unterschiede in den Kohorten könnten auf den Einfluss der Insomnie auf den Gesundheitszustand, wie mit EQ-5D gemessen, zurückzuführen sein.

Insgesamt erscheint die Versorgungssituation bezüglich Differentialdiagnostik und Therapie offensichtlich unzureichend und führt zu langer Krankheitsdauer. Es ist zu fragen, wie die Versorgungsstrukturen zukünftig angepasst und die Verfügbarkeit zielgerichteter Behandlungsmöglichkeiten verbessert werden kann.

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