Das Internet als Chance für sexuelle Bildung und eigene Akzeptanz

fzm, Stuttgart, Mai 2022 – Das Thema Online-Sexualität ist oft negativ behaftet. Viele Menschen denken dabei zuerst an Pornografie. Doch das Internet ermöglicht auch einen positiven Zugang zu sexuellen Themen, wie Diplom-Psychologe Umut Özdemir in der Fachzeitschrift „PiD - Psychotherapie im Dialog“ (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2022) berichtet. Webangebote können die sexuelle Bildung, die eigene Akzeptanz sowie die Partnersuche unterstützen, so der Experte.

Die Palette von Internetangeboten zum Thema Sexualität ist breit: „Die Welt der Pornografie gehört durchaus dazu. Darüber hinaus gibt es aber auch viele hilfreiche Aufklärungsseiten und Dating-Portale“, so Özdemir, der als Psychotherapeut sowie Paar- und Sexualtherapeut in Berlin arbeitet. Im Internet finde jeder und jede die zum eigenen Wissensstand und Interesse passenden Informationen.

Sexuelle Bildung jenseits des Aufklärungsunterrichts

Die sexuelle Aufklärung in der Schule befasst sich hauptsächlich mit dem Menstruationszyklus, dem vaginalen Geschlechtsverkehr, Empfängnis, Verhütung und übertragbaren Geschlechtskrankheiten. Im Internet hingegen finden Jugendliche und junge Erwachsene Antworten auf Fragen, die sie „offline“ nicht zu stellen wagen. Als Beispiele nennt Özdemir die Themen Fetisch, bestimmte sexuelle Praktiken oder vermeintlich abnormale sexuelle Vorlieben. Online könnten Heranwachsende hierzu ohne Scham innerhalb der eigenen vier Wände recherchieren, erklärt er. Schon die Tatsache, im Internet zu den persönlichen Neigungen fündig zu werden, trage zur Akzeptanz der eigenen Sexualität bei. Gleichzeitig bestehe die Möglichkeit, sich mit anderen online auszutauschen und zu erkennen, dass man mit bestimmten sexuellen Vorlieben nicht allein ist.

Sexuelle Mythen: Medienkompetenz im Rahmen der Therapie fördern

Die Informationssuche im Netz setzt jedoch ein gewisses Maß an Medienkompetenz voraus, denn es kursieren dort auch etliche Mythen, wie Özdemir anmerkt. Dazu gehöre etwa die Behauptung, durch Selbstbefriedigung würden die Hormonspeicher geleert. Dass man nicht alles für bare Münze nehmen dürfe, werde auch am Beispiel pornografischer Filme deutlich: „Gestellte und stark geschnittene Szenen sollten nicht als Beispiel für das eigene Sexualleben und als Vergleichsreferenz für die eigenen äußeren Genitalien herangezogen werden“, mahnt der Berliner Sexualtherapeut. Dasselbe gelte für stark verfälschte Darstellungen in den sozialen Medien. Im Rahmen einer Psychotherapie könne es daher sinnvoll sein, die Medienkompetenz gezielt zu fördern. Dazu gehöre es unter anderem, den Blick für verlässliche Quellen zu schärfen.

Weniger Minderheitenstress durch Kontaktsuche im Internet

Auch für die Partnersuche spielt das Internet inzwischen eine große Rolle. Insbesondere für Menschen, die einer sexuellen Minderheit angehören, würden Dating-Portale, die Suche nach der passenden Partnerin oder dem passenden Partner vereinfachen. Die Hemmschwelle, neue Kontakte online zu knüpfen, sei niedriger. Zudem löse sich das Stadt-Land-Gefälle über den Zugang des potenziellen Dating-Pools auf, berichtet Özdemir. Die Online-Partnersuche sei für Angehörige sexueller Minderheiten zudem mit einer deutlich geringeren Angst vor Stigmatisierung verbunden. „Mittlerweile gibt es für nahezu jede sexuelle Orientierung eigene Plattformen“, sagt Özdemir. Durch passgenaue Angebote werde die Gefahr einer Zurückweisung verringert. Dementsprechend nehme auch der sogenannte Minderheitenstress ab, der durch diskriminierende Erfahrungen entstehe.

Internetangebote könnten auch Risiken bergen, so Özdemir. Dazu gehöre beispielsweise die Fokussierung auf Äußerlichkeiten oder aber die mögliche Weitergabe sensibler Daten. Insgesamt gesehen sei das positive Potenzial aber mindestens genauso groß. „Die digitale Multioptionswelt trägt mit dazu bei, Angst und Vorurteile in Bezug auf sexuelle Themen abzubauen“, ist er überzeugt.

Let‘s surf about Sex – Hilfreiche Links zu Sexualität

Eine Orientierungshilfe im Dschungel der Informationsangebote zum Thema Sexualität im Netz bietet Soziologin und Psychologin Daniela Schultheis. In der aktuellen Ausgabe der „PiD“ zieht sie folgendes Fazit: „Das Angebot zu Sexualität im Internet ist groß. Dies zeigt, dass der Bedarf nach Informationen und Aufklärung zu diesem Thema hoch ist. Nach einer ersten Sichtung finden sich erstaunlich viele Webseiten mit einem hohen Qualitätsanspruch“, so die Expertin. Neben hochkarätigen Blogs und Podcasts sei auch das professionelle Angebot im Bereich sexueller Diversität erfreulich hoch. Auf ihrer Empfehlungsliste stehen unter anderem der Sex-Blog „Lvstprinzip“ der Journalistin Theresa Lachner oder der ZEIT ONLINE-Sex-Podcast „Ist das normal?“. Auch das „Glossar der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt“ des Lesben- und Schwulenverbands (LSVD) hat sie überzeugt.

Umut C. Özdemir:
Internet und Sexualität – positive Auswirkungen der digitalen Multioptionswelt
PiD Psychotherapie im Dialog 2022, 23 (2); S. 16-20
DOI: 10.1055/a-1487-8771

Daniela Schultheis:
Let‘s surf about Sex – Hilfreiche Links zu Sexualität
PiD - Psychotherapie im Dialog 2022; 23 (2); S. 79-82
DOI: 10.1055/a-1487-8992

Die aktuelle Ausgabe der „PiD Psychotherapie im Dialog“ widmet sich der Sexualität in ihren unterschiedlichen Facetten. Die Beiträge befassen sich vor allem mit der Ressource der Sexualität und ihren kraft- und energiegebenden Aspekten. Dabei haben die Herausgeber Wert daraufgelegt, der sexuellen Vielfalt und den gesellschaftlichen Veränderungen Raum zu geben. Eine Übersicht über die Beiträge finden Sie hier: Profil - PID - Psychotherapie im Dialog - Georg Thieme Verlag

Catrin Hölbling

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