Lebensmüde durch Corona?

fzm, Stuttgart, April 2022 – Während der Pandemie hat die psychosoziale Belastung in der deutschen Gesamtbevölkerung zugenommen. Infolgedessen befürchteten Fachleute bereits für 2020 einen Anstieg der Suizidrate hierzulande. Die bisherige Datenlage bestätige das jedoch nicht, berichten Wissenschaftler*innen in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Nervenheilkunde“ (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2022). Ein Blick auf unterschiedliche Altersgruppen zeige jedoch, dass Heranwachsende die Belastungen weniger gut verkrafteten und häufiger Suizidabsichten geäußert hätten. Studien wiesen zudem auf einen Anstieg der Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen hin. Niederschwellige Krisendienste und Präventionsangebote an Schulen seien für sie daher besonders wichtig.

Zu Beginn der Pandemie haben Depressivität, Angsterleben und Stress in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung zunächst stark zugenommen. Ab Mai 2020 normalisierten sich jedoch Ängste sowie mentale Belastung in dieser Gruppe wieder, wie Untersuchungen zeigen. „Ein Großteil der Erwachsenen hat somit offensichtlich resilient auf die frühen coronabedingten Belastungen reagiert“, erklärt Erstautor PD Dr. Tobias Teismann, Geschäftsführender Leiter des Zentrums für Psychotherapie (ZPT) an der Ruhr-Universität Bochum. Bei Kindern und Jugendlichen hingegen traten im späteren Jahresverlauf mehr Angst- und Depressionssymptome als zu Beginn der Pandemie auf. Besonders betroffen seien weibliche Jugendliche gewesen.

Mehr Suizidgedanken unter Studierenden

Zudem berichteten junge Erwachsene vermehrt über Suizidgedanken wie eine Erhebung der Ruhr-Universität Bochum zeigt. Im Rahmen der „BOOM – Bochumer Optimism and Mental Health Study” gaben 60 Prozent der befragten Studierenden an, unter Suizidgedanken gelitten zu haben – im Jahr zuvor waren es lediglich 26,6 Prozent. „Die Intensität des Suizidgedanken war jedoch, wie auch schon in den Vorjahren, gering ausgeprägt“, fügt Teismann an.

Mehr Kinder und Jugendliche nach Suizidversuch in der Notaufnahme

Berichten zufolge zeigte sich in pädiatrischen Notaufnahmen in Deutschland in der Zeit des ersten Lockdowns von März bis Mai 2020 eine Zunahme an zu behandelnden Suizidversuchen. Eine noch nicht publizierte Studie des Essener Universitätsklinikums geht davon aus, dass es im Frühjahr 2021 etwa dreimal so viele Suizidversuche unter Heranwachsenden gab wie 2019. Hierbei werden Daten von 27 deutschen Kinderintensivstationen ausgewertet. Die Veröffentlichung der entsprechenden Fachpublikation stünde jedoch noch aus, so Teismann. Bereits publizierte Daten aus den USA ließen jedoch auch für Deutschland einen Anstieg vermuten.

Ausbau von Hilfsangeboten für Heranwachsende dringend erforderlich

Der befürchtete Anstieg der Suizidrate in Deutschland ist ausgeblieben: Im Jahr 2020 töteten sich insgesamt 9206 Menschen selbst. Es ist die zweitniedrigste Zahl seit Beginn der Erhebung durch das statistische Bundesamt, die 1980 begann. Nur 2019 waren es mit 9041 weniger Sterbefälle. „Nichtsdestotrotz zeigen Studien, dass insbesondere Kinder und Jugendliche gezielter psychosozialer Unterstützung bedürfen“, betont der Psychologe und Psychotherapeut. Deshalb sei der Ausbau niedrigschwelliger Krisendienste wie auch spezieller Präventionsangebote in Schulen nötig. Überdies sollten digitale Angebote mitgedacht werden.

T. Teismann et al.:
Suizidales Erleben und Verhalten im Rahmen der COVID-19-Pandemie
Nervenheilkunde 2022; 41 (4); S. 215-221
DOI: 10.1055/a-1755-1648

Catrin Hölbling

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