Besonderheiten und Probleme der Psychopharmakologie im Kindes- und Jugendalter

Probleme des Nachweises der Wirksamkeit

Inwiefern ein Neuro‑/Psychopharmakon die erwartete Wirkung aufweist, wird im klinischen Alltag durch Exploration der Bezugspersonen und des Kindes oder auch systematischer durch Patient-reported Outcomes (PROMs) und zum Teil durch psychometrische Verfahren erfasst. Bei der Erhebung von UAWs sind neben Exploration und Fragebögen auch objektive Parameter (z. B. Blutwerte) von Bedeutung. Grundsätzlich muss die Beurteilung über längere Zeiträume hinweg erfolgen, zumal in der Psychopharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter eine Reihe von Besonderheiten besteht, die die Wirkungsbeurteilung und Erfassung von UAWs verkomplizieren. Manche Betroffene weisen störungsbedingt eine schwankende Krankheits- und Symptomeinsicht auf, mit schwankender Fähigkeit und Bereitschaft zum Erkennen und Mitteilen von Symptomen. Auch die Beurteilung von Symptomen durch Dritte, wie Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer, kann abhängig von deren Erwartung und Erfahrung variieren. Die Wirkung eines Arzneimittels mag in verschiedenen Anforderungssituationen unterschiedlich erkennbar sein (z. B. Wirkung von Psychostimulanzien). Wie oben beschrieben, sind viele klinische Veränderungen des Kindes und Jugendlichen reifungsabhängig. Das heißt, es kann sich über die Behandlungsdauer eine entwicklungsbedingte Verbesserung oder aber auch eine Verschlechterung der Symptomatik ergeben, die primär nichts mit der Wirkung einer Medikation zu tun haben. In dieser Situation kann es zu falschen Attributionen kommen, so dass ein Medikament infolge seiner zeitlichen Nähe zur Symptomveränderung fälschlicherweise als wirksam, unwirksam bzw. symptomaggravierend eingeschätzt wird.

Viele Kinder und Jugendliche, die medikamentöser Interventionen bedürfen, haben komorbide Störungen: So bestehen oftmals Angststörungen und Depressionen gleichzeitig oder auch ADHS, Störungen des Sozialverhaltens und Depressionen. Hier ist es dann umso wichtiger, Zielsymptome für die Pharmakotherapie eindeutig zu definieren und auch zu operationalisieren, um im Verlauf die Wirkung beurteilen zu können.

Ein zusätzlich erschwerender Faktor für eine rationale Therapie mit Neuro‑/Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung oder Autismus ist das Underreporting, welches darin besteht, dass diese Patientengruppe häufig Sprachbarrieren aufweist und damit Wirkung sowie UAWs nur erschwert oder indirekt erkennbar werden. Der oder die Behandelnde muss sich dann auf die Auskunft durch Dritte (Angehörige, Erzieherinnen/Erzieher, Lehrerinnen/Lehrer) verlassen.

Erstattungs- und haftungsrechtliche Fragen bei der Off-Label-Anwendung

In Deutschland ist die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) grundsätzlich von einer Zulassung abhängig. Aufgrund des Wirtschaftlichkeitsgebotes des Sozialgesetzes ist die Krankenkasse nicht zur Kostenübernahme bei der Off-Label-Anwendung eines Arzneimittels verpflichtet. Das bedeutet, Betroffene und Sorgeberechtigte müssen in den Aufklärungsgesprächen darauf hingewiesen werden, dass es erstattungsrechtliche Probleme bei gesetzlich Versicherten geben kann [3, 4, 10]. Es ist oft ratsam, vor jedem Off-Label-Gebrauch einen Antrag bei der jeweiligen Krankenkasse zu stellen und die Behandlung genau zu begründen, jedoch sind die Hürden für eine Erstattung erheblich. Entsprechend eines Urteils des Bundessozialgerichtes vom 19.03.2002 (Az.: B1 KR 37/00 R) ist die Verschreibung von Medikamenten außerhalb ihrer zugelassenen Indikation unter folgender Voraussetzung zulässig und eine Leistung der GKV:

Vorliegen einer schwerwiegenden, lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung, für die keine andere Therapie verfügbar ist,

die begründete Aussicht aufgrund der Datenlage, dass mit dem Arzneimittel ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg erzielt werden kann, beispielsweise durch Ergebnisse einer Phase-III-Studie oder anderweitig erlangter Erkenntnisse von gleicher Qualität, die einen relevanten Nutzen oder eine relevante Wirksamkeit mit einem vertretbaren Risiko belegen.

Insbesondere in Hinblick auf den letzten Punkt ist es hilfreich, wenn sich Behandelnde auf Leitlinien oder Empfehlungen von Fachgesellschaften oder auf Ergebnisse von Konsensuskonferenzen berufen können.

Neben diesen erstattungsrechtlichen Problemen bei der Off-Label-Anwendung von Neuro‑/Psychopharmaka gibt es Unsicherheiten bezüglich des Haftungsrechts, wobei nach juristischen Einschätzungen die Hersteller für alle Schäden, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eines Arzneimittels entstehen, haften [12]. Der Begriff „bestimmungsgemäß“ umfasst dabei sowohl Indikationsangaben im Beipackzettel bzw. in Fachinformationen als auch wissenschaftlich anerkannte Therapiegewohnheiten, die nicht als Kontraindikationen ausgeschlossen werden.

Ein möglicher, wenn auch aufwendiger Ausweg aus der rechtlichen Grauzone wäre die Aufnahme von in der Kinder- und Jugendpsychiatrie häufig off-label verwendeten Neuro‑/Psychopharmaka in die Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie [13]. Über die Aufnahme entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) aufgrund der Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis von den beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingerichteten Expertengruppen. Alle diejenigen Arzneimittel, die in Teil A der Anlage VI aufgenommen werden, sind dann verordnungsfähig, wenn das pharmazeutische Unternehmen, das die Zulassung für das entsprechende Arzneimittel besitzt, dem Off-Label-Einsatz zugestimmt und eine entsprechende Haftungsübernahme nach § 84 Arzneimittelgesetz (AMG) abgegeben hat [13].

Problematik der Durchführung klinischer Studien im Kindes- und Jugendalter

Es gibt vielfältige Gründe, warum nur wenige Neuro‑/Psychopharmaka für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassen sind. Zum einen sind Zulassungsverfahren sehr aufwendig und kostenintensiv. Sie werden deshalb durch die pharmazeutische Industrie vor allem für solche Arzneimittel durchgeführt, die bei häufig vorkommenden Erkrankungen angewendet werden können und somit eine hohe Verordnung zu erwarten ist. Der Absatzmarkt für Neuro‑/Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen ist aber verhältnismäßig klein. Weitere Hindernisse sind rechtliche, ethische und methodische Probleme bei der Durchführung randomisierter, placebokontrollierter Studien, die ein zentrales Element des Zulassungsverfahren sind, sowie eine fehlende Infrastruktur für die multizentrische Arzneimittelprüfung mit Schwierigkeiten bei der Patientenrekrutierung [14].

Bei klinischen Prüfungen nach dem AMG können Minderjährige sich nicht eigenständig für eine Teilnahme entscheiden, es müssen immer die Sorgeberechtigten zustimmen [3]. Minderjährige in klinischen Studien haben ein Recht auf altersentsprechende Aufklärung, weshalb in der Praxis für sie meist eigene Aufklärungsformulare verwendet werden.

Methodische Probleme bei der Evaluation von klinischen Studien im Kindes- und Jugendalter tragen ebenfalls dazu bei, dass kaum Zulassungsverfahren für Neuro‑/Psychopharmaka angestrebt werden. So gibt es wie oben beschrieben erhebliche Schwierigkeiten, die gewünschte Wirkung eines Arzneimittels nachzuweisen, da Symptome kontext- und reifungsabhängig sein und stark schwanken können. Auch die Beurteilung von Symptomen durch Dritte, wie Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer, kann abhängig von deren Erwartung und Erfahrung variieren. Schließlich gibt es Hinweise darauf, dass die Placebo-Responseraten höher sind als bei Erwachsenen. Das bedeutet, dass in pädiatrischen Studien wesentlich mehr Versuchspersonen in die Studien eingeschlossen werden müssen als bei Studien an Erwachsenen [15, 16].

Die schwierige Vorhersage der Dosis-Wirkungs-Beziehung allein auf der Basis von Untersuchungen an Erwachsenen, mögliche unvorhersehbare Arzneimittelwirkungen und Bedenken hinsichtlich möglicher Spätfolgen (z. B. auf Wachstum oder Gehirnentwicklung) führen zu einer Zurückhaltung bei der Durchführung von und Teilnahme an klinischen Studien mit Neuro‑/Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen. Die limitierten finanziellen Anreize für die Industrie sowie die äußerst begrenzten Möglichkeiten, industriefreie Drittmittel für Zulassungsstudien einzuwerben, führen zu einer höchst unbefriedigenden Verfestigung der gegenwärtigen Off-Label-Praxis. Ärztinnen und Ärzte, die in Kooperation mit der pharmazeutischen Industrie klinische Studien durchführen, sehen sich nicht selten dem Vorwurf ausgesetzt, dass dadurch ihre Therapie- und Verordnungsentscheidungen beeinflusst würden [17].

Obwohl eine Reihe von regulatorischen und finanziellen Maßnahmen in der Europäischen Union (EU) und Nordamerika ergriffen wurde (u. a. EU-Direktive 2001/20/EG von 2001 und EU-Verordnung von 2006, welche 2007 in Kraft trat; Food and Drug Administration Modernization Act von 1997), um die medikamentöse Versorgung und Sicherheit von Kindern und Jugendlichen zu verbessern [15, 16], hat sich wenig hinsichtlich der für Minderjährige zugelassenen Neuro‑/Psychopharmaka geändert. Im Zeitraum 2004 bis 2006 und 2012 bis 2014 gab es in der EU jeweils nur 4 Arzneimittel aus dem ZNS-Bereich, die für Minderjährige zugelassen wurden [18]; zum jetzigen Zeitpunkt ist die Anzahl der im Kindes- und Jugendalter zugelassenen Neuro‑/Psychopharmaka weiterhin sehr übersichtlich [19, 20].

Die ergriffenen Maßnahmen verpflichteten pharmazeutische Unternehmen gesetzlich dazu, klinische Studien im Kinder- und Jugendbereich durchzuführen, wenn ein Arzneimittel für Erwachsene zugelassen werden soll, und einen entsprechenden Prüfplan bei Einreichung des Arzneimittelantrages auf Genehmigung bei der Zulassungsbehörde vorzulegen. Zusätzlich wurden Anreize geschaffen, um die pharmazeutische Industrie zur Durchführung klinischer Studien an Kindern und Jugendlichen anzuregen. Hierzu gehören eine Patentverlängerung um 6 Monate, wenn mit einem bereits zugelassenen Arzneimittel klinische Studien an pädiatrischen Patientinnen und Patienten durchgeführt werden, und eine neue Form der Arzneimittelzulassung, die sogenannte Genehmigung für die pädiatrische Verwendung („paediatric use marketing authorisation“; PUMA). Diese besondere zusätzliche Genehmigung kann für jedes Arzneimittel erteilt werden, welches bereits für Erwachsene zugelassen ist und für das eine weitere Zulassung ausschließlich für die Verwendung in der pädiatrischen Bevölkerung beantragt wird. Obwohl seit der Einführung dieser Maßnahmen der Anteil der an Kindern und Jugendlichen durchgeführten randomisierten, doppelblinden klinischen Studien zwischen 2007 und 2013 auf etwa 10 % anstieg [21], kam es nur zu einer einzigen Zulassung im Rahmen der PUMA [14]. Dies lässt darauf schließen, dass diese regulatorischen Maßnahmen keinen ausreichenden Anreiz für die pharmazeutische Industrie darstellen, um Arzneimittel nach ausgelaufenem Patentschutz für die pädiatrische Anwendung zu entwickeln.

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