Fragwürdiges Akronym

Ludwig B et al (2022) Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom: eine Übersicht zur aktuellen Evidenz. Nervenarzt. https://doi.org/10.1007/s00115-022-01431-x (published online 25.01.2023).

Nun ist das fünfbuchstabige Akronym, das ich hier nicht wiederholen will, auch an prominenter Stelle im Der Nervenarzt zu lesen. Leider ist es irreführend daher, weil es Konzepte koppelt, die nicht zusammengehören. Die Bestandteile weisen nicht nur eine unterschiedliche Historie auf, sondern sind auch nomenklatorisch disparat. Myalgische Enzephalomyelitis ist ein ätiopathogenetisch und neuroanatomisch definierter Begriff, der in den frühen 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts auftauchte und eine epidemisch und multiregional auftretende Erkrankung beschrieb [2], die viral-entzündlicher Natur war und Ähnlichkeiten mit der Poliomyelitis acuta anterior aufwies. Sie wurde benigne genannt, weil sie selbstlimitierend war, keine Lähmungen hinterließ und niemand daran starb. Im Vordergrund standen – erwartbar – Muskelschmerzen. Weil das Phänomen zunächst gehäuft auf Island beobachtet wurde, sprach man auch von der Island- oder Akureyri-Krankheit (nach einer dortigen Stadt). Ein zweiter häufig zitierter regionaler Schwerpunkt war 1956 das Royal Free Hospital in London („Royal Free disease“). Ein eindeutiger Erregernachweis gelang aber nie und Belege (Liquorbefund, Bildgebung) für eine tatsächliche Entzündung des Zentralnervensystems fehlten fast völlig, sodass bereits damals der eigentliche Wortsinn der Bezeichnung weitgehend verfehlt wurde. Jedenfalls flackerten immer wieder Erkrankungsherde in unterschiedlichen Weltregionen auf, sodass zumindest die Annahme einer epidemischen Myalgie gut fundiert war, obwohl auch objektive Merkmale einer Muskelerkrankung (EMG, CK) spärlich waren. Zwei Monografien [1, 3] setzten sich eingehend mit dem Geschehen auseinander, betonten dessen Organogenese und kritisierten im Zusammenhang damit die „unglückliche Kreation“ des chronischen Erschöpfungssyndroms (CFS), was sie strikt separiert haben wollten. Letzterer ist tatsächlich ein rein deskriptiv-symptomatologischer Terminus, der ätiologieunspezifisch auftritt und nicht einmal eine postvirale Genese impliziert, wie sie bereits 1986 ventiliert wurde (Ramsay) und sowohl davor (EBV-Virusinfektion, Pfeiffersches Drüsenfieber) wie danach (SARS-CoV-2-Infektion, Coronaviren) zur Debatte standen. Die seit mehreren Jahren zu beobachtende Tendenz, beides in einen Topf zu werfen, schadet nicht nur der wissenschaftlichen Erforschung, weil zwangsläufig Diagnosekriterien verwässert werden, sondern birgt auch weitreichende therapeutische, gesellschaftliche und mediale Implikationen. Leider hat dieses Mixtum compositum bereits in eine Leitlinie (AWMF 053-002) und die ICD-10-Klassifikation (G 93.3) Eingang gefunden. Solange es aber keine faktischen Belege für eine nachweisliche Enzephalomyelitis gibt, tun Wissenschaft, medizinische Praxis und Publikationsorgane sicherlich gut daran, die Begriffe separat und nicht pauschalierend, unterschiedslos oder in fixer Kombination zu verwenden.

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