Beurteilung des Stellenwertes der neuropädiatrischen Diagnostik im Rahmen der initialen Autismusabklärung

Das Hauptziel der hier vorliegenden retrospektiven Studie war die Darstellung des diagnostischen Prozesses und der Ergebnisse der neuropädiatrischen Untersuchungen im Rahmen einer Autismusabklärung.

In unserem Patientenkollektiv, welches 82 Patienten umfasst, zeigte sich ein Geschlechterverhältnis von männlich zu weiblich von 3,5:1, was dem in der Literatur beschriebenen Verhältnis von 2–3:1 entspricht [15, 22]. Das Durchschnittsalter bei Vorstellung in unserer neuropädiatrischen Ambulanz betrug 5,9 Jahre, wobei die meistvertretene Altersgruppe zwischen 3 und 5 Jahren lag. Wann genau die Autismusdiagnose gestellt wurde, ließ sich jedoch in unserem Kollektiv nicht durchgängig ermitteln. Rund die Hälfte der ASS-Diagnosen wurde nicht näher klassifiziert, was die Notwendigkeit einer Anpassung der Diagnosekriterien und Einteilung unterstreicht, wie sie in der zukünftig geltenden ICD-11 auch vorgesehen ist.

In unserer Studienpopulation war weit mehr als die Hälfte (64,6 %) von somatischen und psychischen Komorbiditäten betroffen. Diese Beobachtung deckt sich beispielsweise auch mit den Ergebnissen von Rosen et al., die in 63–78 % mindestens eine psychische Komorbidität fanden und in 10–77 % mindestens eine somatische Begleiterkrankung [29]. Da viele Begleiterkrankungen bereits durch eine detaillierte Anamnese und gründliche klinisch-neurologische Untersuchung erkannt oder differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden können bzw. sich hieraus Indikationen für weiterführende Untersuchungen ergeben, sollte dies bei jedem Kind mit Verdacht auf ASS sorgfältig durchgeführt werden.

In unserer Studie wurde bei 33,8 % (25/74) der Kinder ein auffälliges EEG festgestellt. Bei 19,5 % (16/82) wurde anhand des EEGs und/oder der Anamnese eine Epilepsie erfasst; 2 Kinder zeigten ein unauffälliges EEG trotz bekannter Epilepsie. Die genaue Prävalenz von Epilepsie bei Autismus ist nicht bekannt; in Studien variieren die Zahlen von 5–46 % [34, 37].

Bei 14,9 % derer, die ein EEG erhielten, zeigte sich in unserer Kohorte ein auffälliger Befund ohne klinisches Korrelat oder diagnostizierte Epilepsie. Chez et al. fanden bei 889 Patienten mit ASS in 61 % Abweichungen im EEG ohne bekannte Krampfanfälle [4]. Andere Studien hingegen berichten von lediglich 22 % bzw. 32 % [1]. Ein möglicher Grund für die hohe Prävalenz in der Studie von Chez et al. [4] könnte sein, dass sie die Ergebnisse von 24-h-EEGs erfassten. Bei Patienten mit normalen Routine-EEGs könnte ca. die Hälfte an Auffälligkeiten übersehen werden [4].

Die Bedeutung von Auffälligkeiten im EEG und damit auch die Notwendigkeit der Durchführung eines EEGs muss auch im Hinblick auf epileptische Enzephalopathien bewertet werden. Dieser Begriff beschreibt, dass es aufgrund der epileptischen Aktivität zu kognitiven Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, einschließlich ASS, kommt, die über die zugrunde liegende, oft genetisch bedingte Pathologie hinausgehen [27]. Unter der Annahme, dass die epileptischen Aktivitäten im Zusammenhang mit den Verhaltensauffälligkeiten, Sprachdefiziten und eingeschränkter kognitiver Leistung stehen, ist es möglich, dass sich eine antikonvulsive Therapie auch ohne das Auftreten von Krampfanfällen durch eine Normalisierung des EEGs positiv auf die Symptomatik bei ASS auswirken kann [27, 34]. Diese Erkenntnisse stellen die Empfehlungen bezüglich der Durchführung eines EEGs in der aktuell gültigen Leitlinie zur Diagnostik bei ASS infrage. Diese empfiehlt, nur bei klinischer Indikation, aufgrund der Anamnese und internistisch/neurologischer Untersuchung ein EEG durchzuführen [7].

Zum jetzigen Zeitpunkt überwiegt für uns der Nutzen, das EEG als kostengünstige und wenig belastende Untersuchung in die Routinediagnostik bei ASS aufzunehmen; allerdings ist teilweise auch die Gabe von Beruhigungsmitteln notwendig [16, 20]. Aufgrund der bekannten zweigipfligen Erstmanifestation der Epilepsie empfehlen wir die Durchführung bei jedem Kind mit Verdacht auf ASS vor dem 5. Lebensjahr und im Verlauf nach dem 10. Lebensjahr.

In unserer Studie zeigte sich bei 22/49 (44,9 %) Kindern mindestens ein auffälliges Ergebnis in der cMRT-Untersuchung. Bei 14/22 (63,8 %) konnten die Befunde als eindeutige Pathologien im Sinne von Fehlbildungen oder Läsionen klassifiziert werden. Ähnliche Arbeiten erfassten mit 12 % bzw. 17 % deutlich weniger strukturelle Auffälligkeiten des Gehirns [5, 39]. Es ist jedoch anzumerken, dass in unserem Kollektiv bei 60 % der Patienten eine cMRT durchgeführt wurde, wohingegen bei Voigt et al. und Chudley et al. lediglich bei 20 % bzw. 13 % eine cMRT oder eine Computertomographie erfolgte [5, 39].

Darüber hinaus fand sich bei 55,5 % der Kinder mit Mikro- oder Makrozephalie, bei 53,8 % der Kinder mit Epilepsie und 50,0 % der Patienten mit auffälligem EEG eine auffällige cMRT. Auch Cooper et al. registrierten in ihrer Studie zur Bedeutung des cMRTs bei ASS mehr Pathologien bei klinischen Auffälligkeiten. So kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Prävalenz auf bis zu 26,2 % steigt, wenn klinische Auffälligkeiten wie eine auffällige neurologische Untersuchung oder Epilepsie vorliegen. Hingegen fanden sie beim alleinigen Vorliegen einer ASS lediglich eine Prävalenz von 6,5 %. Diese Erkenntnisse unterstützen die Empfehlung der aktuellen Leitlinie, nicht standardmäßig bei jedem Kind eine cMRT durchzuführen [6, 7]. Ein Grund für die höhere Prävalenz in unserer Studie könnte sein, dass in unserem Kollektiv auch Auffälligkeiten erfasst wurden, die nicht eindeutigen Pathologien wie Fehlbildungen, Läsionen oder Tumoren zugeordnet werden konnten.

In unserer Studie erhielt mehr als die Hälfte (53,7 %) der Kinder ein Stoffwechselscreening. Bei 11,4 % (5/44) derer, die ein Stoffwechselscreening erhalten hatten, konnte letztlich eine Stoffwechselerkrankung bzw. der Verdacht darauf diagnostiziert werden. Damit liegt die Prävalenz für Stoffwechselerkrankungen bei Kindern mit ASS in unserer Studie deutlich höher als in der Literatur mit 0–5 % angenommen [24, 33]. Ursache für die deutliche Differenz könnte in unseren Einschlusskriterien liegen, aufgrund derer kein Ausschluss bei Vorliegen eines Syndroms erfolgte. Dementsprechend ist anzunehmen, dass die höhere Prävalenz in unserer Studie dem Einschluss von Patienten mit syndromalem Autismus geschuldet ist.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich einige Stoffwechselerkrankungen therapieren lassen und somit die Prognose positiv beeinflusst werden kann, sollte aus unserer Sicht eine Stoffwechseldiagnostik durchgeführt werden, wenn durch vorhergehende gründliche klinische Untersuchung und Anamnese Hinweise auf einen syndromalen Autismus erkannt werden. „Red Flags“, die zu Laboruntersuchungen führen sollten, sind: Lethargie, zyklisches Erbrechen, Krampfanfälle, Dysmorphiezeichen, mentale Retardierung, auffälliges Neugeborenenscreening, Geburt in einem Land, welches kein Neugeborenenscreening durchführt, Elektrolytstörungen, gastrointestinale Störungen, Hypotonie oder Sprachregression [11, 24, 32]. Zudem treten Stoffwechselerkrankungen durch die oftmals autosomal-rezessive Vererbung vermehrt in Ländern mit hohem Anteil an blutsverwandten Eltern auf, weshalb auch dies einen Grund für eine metabolische Diagnostik darstellen sollte [11].

Die Empfehlungen einer genetischen Untersuchung im Rahmen der Abklärung einer ASS sind nicht einheitlich. Einige Autoren empfehlen, eine genetische Diagnostik bei jedem Kind durchzuführen, und beziehen sich auf die Richtlinien des American College of Medical Genetics (ACMG) von 2013. In der aktuellen S3-Leitlinie der AWMF wird in der konsensbasierten Empfehlung eine humangenetische Untersuchung nur bei klinischer Indikation empfohlen [7].

Obwohl in unserer Studie bei 60 % eine genetische Abklärung empfohlen wurde, lagen bei lediglich 35 % (29/82) Ergebnisse diesbezüglich vor. Auffällige Befunde zeigten sich bei 41 % (12/29). Dies liegt damit deutlich über den Ergebnissen einer ähnlich aufgebauten Studie, in der nur bei 6 % (6/97) eine auffällige Chromosomenanalyse sowie bei 2 % (2/104) Veränderungen in der DNA im Sinne eines Fragilen-X-Syndroms gefunden wurden [39]. In unserer genetischen Abklärung wurden allerdings je nach Einschätzung des Humangenetikers neben der Karyotypisierung und der Array-CGH auch einzelne Gensequenzierungen sowie PANEL-Sequenzierungen durchgeführt. Dies könnte ein Grund für den höheren diagnostischen Ertrag sein. So ist anzunehmen, dass je nach individueller Einschätzung der behandelnden Ärzte sowie der Verfügbarkeit an Laboruntersuchungen, der Umfang und damit auch der diagnostische Ertrag der genetischen Diagnostik variiert [7].

Auch das Wiederholungsrisiko für die Familien spielt bei der genetischen Diagnostik eine große Rolle. In unserer Studie lag anamnestisch bei 13,4 % eine positive Familienanamnese für Autismus vor. Bei selektiver Betrachtung einer positiven Familienanamnese für Autismus bei Geschwistern, lag die Prävalenz in unserer Studie bei 6 %. Dies deckt sich mit Daten aus der Literatur, die das Wiederholungsrisiko bei Geschwistern mit 3,9–6,3 % beziffern [3, 14]. Ob hier Veränderungen in gleichen Genen ursächlich sind, wurde in unserer Studie nicht erfasst und müsste Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. In Zukunft dürfte wohl auch der Exom-Analyse – sowohl für wissenschaftliche als auch für klinische Fragestellungen – eine zunehmend größere Bedeutung im Rahmen der ASS-Diagnostik zukommen [41, 42].

Bei Betrachtung der Kinder mit und ohne motorische Entwicklungsverzögerung fällt v. a. auf, dass eine motorische Entwicklungsverzögerung häufiger mit Komorbiditäten, EEG-Auffälligkeiten und Auffälligkeiten in der Stoffwechseluntersuchung und der genetischen Diagnostik assoziiert war, auch wenn nicht in allen Punkten signifikant. Wir plädieren daher dafür, dass bei jedem Kind im Rahmen der ASS-Diagnostik, ein EEG durchgeführt werden sollte. Da bei der hohen Prävalenz von bis zu 46 % für eine Epilepsie im Rahmen der ASS [34, 37] und der potenziell guten Behandelbarkeit bis hin zur Anfallsfreiheit auch ein Gewinn an Lebensqualität für Patienten und deren Familien erreicht werden kann, erscheint uns dieses Vorgehen gerechtfertigt. Darüber hinaus rechtfertigt häufiges Auftreten von epilepsietypischen Veränderungen ohne klinisches Korrelat im Hinblick auf epileptische Enzephalopathien die standardmäßige Durchführung eines EEGs [4, 27].

Weiterführende Abklärungen mittels cMRT, Stoffwechseldiagnostik und/oder genetischer Diagnostik sollten hingegen nicht standardmäßig bei jedem Patienten mit Verdacht auf ASS empfohlen werden. Hier richtet sich das weitere Prozedere insbesondere nach den Befunden aus der internistisch-neurologischen Untersuchung, der Anamnese, EEG-Pathologien und dem Vorliegen von „Red Flags“.

Die Durchführung eines Hörscreenings und eines Sehtests ist nicht Teil unseres diagnostischen Prozesses, sondern wird in der Regel vor Überweisung in unsere neuropädiatrische Ambulanz von externen Kollegen veranlasst. Wir befürworten aber den Ausschluss von Hör- und Sehstörungen als mögliche Ursache für die autistischen Symptome.

Eine wesentliche Limitation unserer Studie stellt das retrospektive Studiendesign dar mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Datenerhebung, -auswertung und -interpretation. Des Weiteren stellen die kleine Gruppengröße und die monozentrische Erhebung der Daten eine weitere Einschränkung dar, die die statistische Aussagekraft beschränken.

Aufgrund der erhobenen Daten sollte aus unserer Sicht bei jedem Patienten mit Verdacht auf ASS eine Basisdiagnostik aus detaillierter Anamnese, einer internistisch-neurologischen Untersuchung sowie einer EEG erfolgen. Die Durchführung weiterer Untersuchungen wie einer cMRT, einer stoffwechsel- sowie einer genetischen Diagnostik wird hingegen nicht standardmäßig empfohlen. Dagegen sollte deren Indikation individuell anhand der erhobenen Befunde aus der Basisdiagnostik gestellt werden.

留言 (0)

沒有登入
gif